Bomben auf Düren

Ein denkwürdiger Tag – Mein Erlebnis als 17jährige – Von Maria Wilkens

Es war ein Donnerstag – der 16. November 1944 – strahlender blauer Himmel, der Rauhreif lag über den Dächern. Nachts hatte ich mir vorgenommen, zur zweijährigen Städtischen Handelsschule zu gehen, um mir dort eine Bescheinigung zu holen, dass ich bis zum 14. September 1944 dort die Schule besucht hatte. An diesem Tage wurden alle Schüler – Jungen wie Mädchen – zum Schanzen an den Westwall verpflichtet. Diese Bescheinigung habe ich mir selbst dort geschrieben, unterschrieben von Dipl.-Handelslehrerin Thekla Neunkirchen, die dort in den Kellerräumen der Schule in der Holzstrasse zur Feuerwache eingeteilt war. Diese Bescheinigung, versehen mit dem Datum 16. 11. 1944, habe ich heute noch. Dann machte ich noch einige Besorgungen in der Weierstraße für Frau Neunkirchen und kehrte wieder zur Feuerwache zurück. Anschließend besuchte ich auf dem Weg nach Hause die St. Anna Kirche und schaute dort einer Trauung am Seitenaltar zu: die Braut im weißen Kleid, der Bräutigam in der Uniform eines Feldwebels der Luftwaffe. Kaplan Meisen assistierte dort. Er ist wie so viele andere in der nächsten halben Stunde ums Leben gekommen.

Ich ging wieder nach Hause zur Nideggener Strasse.

Es lag auf einmal eine komische Unruhe in der Luft. Heute weiß ich nicht mehr, ob überhaupt noch einmal extra Fliegeralarm gegeben wurde, da wir schon seit Wochen fast nur noch im Keller lebten, nachts immer. Da hörte ich deutlich das mir so bekannte Motorengeräusch der britischen Flugzeuge – der Royal Air Force. Ich sah zum Himmel und dachte, „die schütten dort oben Goldkisten aus.“ Aber es waren die Angriffszeichen für unsere Stadt. Bunte Kugeln waren es für mich!

Sogleich fielen die ersten Bomben. Alle rannten in den Keller, meine Mutter, meine Schwestern, (eine Schwester arbeitete noch bei den Dürener Metallwerken) und auch vier Gesellen, die bei uns auf dem Hof landwirtschaftliche Geräte reparierten. Alle stürmten in den Keller. Dann ging ein schweres Bombardement auf uns nieder. Man hörte nicht mehr das Pfeifen einer Bombe, sondern es war nur ein großes Dröhnen und die Erde bebte.

Wir lagen alle auf den Knien, zitterten und flehten inständig zum Himmel: „Laß uns leben!“ Immer wieder: „Bitte, lieber Gott, laß uns leben, laß keine Bombe auf unser Haus fallen! Bitte, hilf uns!“

Meine Mutter zündete immer wieder eine kostbare Kerze an, die ständig vom Luftzug ausgeblasen wurde. Sonst wäre es ja stockdunkel gewesen.

Wir standen alle unter Schock und klapperten zitternd mit den Zähnen.

Nachdem es etwas ruhiger geworden war, wollten wir aus dem Keller heraus, doch der Eingang war zugeschüttet und die Hoftreppe weggerutscht. Die Gesellen stießen dann mit Wucht den Durchbruch zum Nachbarhaus auf. Dort lagen auch alle auf den Knien und beteten. Den Weg nach draußen fanden wir später durch unseren Bierkeller. Mühsam krochen wir alle aus dem Keller, doch draußen erwartete uns eine einzige Feuersbrunst; wir waren umgehen von Qualm und Funken und ein Starker Sturm tobte. Wir hatten zum Glück alle unsere Gasmasken um, die wir ständig bei uns tragen mussten. Die Straße war wie ein frisch umgepflügtes Feld und wir konnten beim Laufen kaum gegen den Sturm ankommen. Viele Häuser in der nächsten Umgebung lagen als Trümmerhaufen in der Straße. Weit konnten wir ja nicht sehen wegen des Qualms. In unserer Nachbarschaft waren es die Gaststätte Brück, Delikatessenhaus Schneider / Weckmüller. Schräg gegenüber von uns war die Villa Erkens wie ein Puppenhaus durchgeschnitten. Niemand ist dort mehr rausgekommen. Wir liefen weiter , mußten aber in den Keller der Villa Renker (wo später die Kaufmännischen Schulen gebaut wurden) und hockten dort noch, weil wieder Bomben fielen .

Ich sollte mich draußen erkundigen, ob es ruhiger geworden sei. Da sah ich, wie aus dem Türmchen der Villa ein Blitz schoß und in Sekundenschnelle stand das ganze Anwesen in Flammen. Ich rannte wieder in den Keller und rief: „Alle rauskommen, hier brennt auch alles!“

Wir flüchteten Richtung St. Josef und trafen dort in der Piusstraße (früher Plaggengasse) unseren Rektor Willi Bohnekamp. Der Pfarrsaal stand noch und war mit Flüchtenden gefüllt, und wir liefen weiter Richtung Stockheim. Wir drehten uns beim Laufen ständig um und sahen nur die dichten Rauchwolken und Feuer über unserer Stadt. Unsere Mutter sagte immer wieder: „Das ist das Ende unserer Vaterstadt. Das werdet ihr nie vergessen.“

Foto: Hans-Herbert Reuter

Wir alle flüchteten nur mit dem, was wir gerade anhatten, und der Gasmaske, die wir ständig bei uns trugen. Gegen Mitternacht fanden wir endlich Unterschlupf bei einer Familie Harscheidt in Stockheim.

Meine Mutter schickte uns von dort zu einem uns bekannten Soldaten, der für das Rote Kreuz arbeitete. Er war Sanitäter und sollte unsere Schwester Nelly finden, die in der Veldener Straße arbeitete. Es war eigentlich unmöglich, denn durch die Stadt konnte man nicht mehr. Der Soldat versuchte es wieder Richtung Stadt mit seinem Motorrad (weiß gestrichen mit einem roten Kreuz). Aber es war kein Durchkommen möglich.

Da sieht er ein Mädchen trotten, Schuhe ohne Absätze, von der Erde schmutzig, Gasmaske um und eine Puppe unter dem Arm und spricht sie an: „Kann man hier irgendwie zu den Dürener Metallwerken kommen?“ Da sagt das Mädchen – es war unsere Schwester Nelly – : „Sind Sie etwa der Soldat Emil?“ So konnten wir wenig später unsere Nelly wieder umarmen.

War das nicht auch ein großes Wunder? Nach so einem unvorstellbaren Chaos jemanden ohne Absprache wiederzufinden?

Aufgezeichnet im Oktober 2007 – nach meinem 80. Geburtstag

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