Schwimmen im Mittelmeer

Unser Taxi hält an der Tankstelle; wir steigen aus und werden sogleich von Händlern aller Art angesprochen. Wir haben die Wahl zwischen Turnschuhen, die auf dem Bürgersteig ausgebreitet wurden, Telefonkarten („Heute 50% Nachlass“), Mandarinen, Wäsche, Zeitungen. Ich wähle unter den in der Hand des jungen Mannes aufgefächerten Zeitungen den senegalesischen „Observateur“, der auf Seite eins Informationen zum letzten Drama in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ankündigt: Fünfzehn Leichen afrikanischer Migranten aus dem Wasser gefischt, darunter mehrere Senegalesen. Weiter auf Seite 3.

Doch erste einmal geht’s zum Bus, der sich hier am Knotenpunkt von Keur Massar eine Auszeit nimmt, bis neue Fahrgäste die entstandenen Lücken wieder aufgefüllt haben. Zwei Blinde um die 50 nutzen die Minuten, um unter frommen Gesängen zu betteln, einer im Bus, einer am Eingang. Ein eingespieltes Team. Eine willkommene Fahrtpause auch für Bettelkinder, die an den Erwachsenen vorbeihuschen und ihre gelben Schüsselchen für die Almosen den Fahrtgästen präsentieren. Ein Fahrgast findet vorne neben dem Fahrer Platz für drei Kartons mit Küken, die nach Fahrtbeginn aufgeregt anfangen werden zu quieken. Hühnerzucht läuft gut und die lokale Niederlassung der der topmodernen SEDIMA (der Präsident höchstpersönlich liefert einen Willkommensgruß), die Küken und Körner für die nationale Selbstversorgung verspricht, befindet sich gleich um die Ecke. 

Der Bus setzt sich in Bewegung und ich kann auf Seite drei weiterlesen. Es geht um ein neuerliches Drama in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, die direkt vor der Haustüre Marokkos auch nach dessen Unabhängigkeit noch von der einstigen Großmacht Spanien Zeugnis ablegen, sozusagen ein afrikanisches Gibraltar mit umgekehrten Vorzeichen. Fünfzehn Flüchtlinge sollen versucht haben, so zitiert der OBS erste Vermutungen, das spanische Festland schwimmend zu erreichen. Durch die Straße von Gibraltar nach Spanien schwimmen? Trainierte Sportler schaffen die gut 20 Kilometer vom spanischen Tarifa nach Marokko in rund vier Stunden — mit Begleitboten, Radar, GPS, kurzen Essens- und Trinkpausen. Aber in umgekehrter Richtung gegen Wind und Strömung am Ende des Winters ohne Hilfe? Die erste Vermutung gehört ins Reich der Fabeln. Aber warum gehen dann Flüchtlinge ins Wasser? 

Hinter dem Drama verbergen sich zunächst einmal die devoluciónes en calientes, umgehende Rückführungen von Flüchtlingen. Dabei soll die Polizei im Prinzip dem spanischen Gesetz entsprechend den Einzelfall prüfen — doch bei Personen, die ohne Papiere reisen, um nicht ausgewiesen zu werden, wird die im Wortsinne umgehende Ausweisung zur práctica habitual, zur Standardmaßnahme. Na gut, könnte man aus der Ferne meinen, dann werden die Flüchtlinge halt einen zweiten und dritten Versuch wagen. Doch dazu kommt es wohl kaum, wie der Redakteur des OBS erläutert. Denn nach derdevolución en caliente greift eine andere práctica habitual jenseits der spanischen und marokkanischen Gesetze. Berichtet wird immer wieder, wie Flüchtlinge misshandelt werden und in der Wüste auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Wüste oder Wasser — eine tödliche Alternative.

Derweil vermeldet der Fernsehsender laSextaCeuta teme otro caso de menores usados para llegar a España, dass man nämlich in Ceuta einen erneuten Versuch befürchtet, Minderjährige auszunutzen, um nach Spanien zu gelangen. 2000 € soll die Schleusermafia für einen Kindertransport verlangen. So greift die Guardia Civil schon zu DNA-Tests, um das Verwandtschaftsverhältnis unter Flüchtenden zu prüfen. FRONTEX, die europäische Behörde, die die Außengrenzen der EU sichern soll, bestätigt: …few issues are more emotive than the trafficking of children, nur wenige Themen lösen so viele Emotionen aus wie der Kinderhandel. Da wollen vielleicht Eltern ihr Kind ins Paradies Europa senden, mitfliehende Bekannte glauben, einen guten Dienst zu leisten, wenn sie sich als Eltern ausgeben, doch das Sklavendrama beginnt dann jenseits der Grenze im Gelobten Land des Nordens: The crime doesn’t occur at the border. The exploitation typically comes later…Derweil steigt vor dem Hintergrund der zahlreichen politischen und sozialen Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent die presión migratoria, der Einwanderungsdruck, weiter an.

Wie dem Strudel aus Behördensprache (devoluciónes en calientes) oder der Sprache demographischer Physik (presión migratoria) entkommen? „Horizon sans frontières“ (Horizont ohne Grenzen), eine Nicht-Regierungs-Organisation, in der sich „Weltbürger“ dem Kampf gegen Flüchtlingselend verschrieben haben, wechselt den Diskurs und spricht von der „Krankheit Armut“, gegen die sich Afrikaner nicht zu Hause aber in Europa „impfen“ lassen könnten. Den medizinischen Metaphern antwortet die Xenophobie: „Wenn sie denn nicht in Großstädten den Drogenhandel bestimmen“, rufen die Rechtsextremen zurück, zeigen auf Bildern afrikanische Armut und afrikanischen Müll, polemisieren mit stumpfsinnigen Sprüchen. Je mehr man sich ins Thema vergräbt, desto mehr ringt man nach Luft.

Als ich vor einigen Wochen diese Nachricht hörte, die sich leider sehr oft wiederholte, drangen die Gedanken immer wieder wie ein Leid bringender Stich ins Herz. Und da habe ich gespürt, dass ich heute hierher kommen musste, um zu beten, um eine Geste der Nähe zu setzen, aber auch um unsere Gewissen wachzurütteln, damit sich das Vorgefallene nicht wiederhole. Es wiederhole sich bitte nicht. 

Hier spricht endlich die Stimme des Erbarmens, des Mitleidens, die Stimme Papst Franzikus’ in Lampedusa

„Adam, wo bist du?“, lautet die erste Frage, die Gott an den Menschen nach dem Sündenfall richtet. „Wo bist du, Adam?“ Adam ist ein Mensch ohne Orientierung, der seinen Platz in der Schöpfung verloren hat, weil er glaubt, mächtig zu werden, alles beherrschen zu können, Gott zu sein. Und die Harmonie geht zu Bruch, der Mensch geht fehl, und dies wiederholt sich auch in der Beziehung zum anderen, der nicht mehr der zu liebende Bruder ist, sondern bloß der andere, der mein Leben, mein Wohlbefinden stört. Und Gott stellt die zweite Frage: „Kain, wo ist dein Bruder?“ Der Traum, mächtig zu sein, groß wie Gott, ja Gott zu sein, führt zu einer Kette von Fehlern, zur Kette des Todes, führt dazu, das Blut des Bruder zu vergießen!“

Papst Franziskus erinnert uns daran, dass die vielen fliegenden Händler, Bettler, Busfahrer, Mandarinenverkäuferinnen und natürlich die Flüchtlinge zuallererst unsere Brüder und Schwestern sind. Im Anschluss an Gottes Wort, im gemeinsamen Gebet, können wir lernen, in der Sprache der Nächstenliebe über sie und mit ihnen zu reden.

© HGT 2016