Wahre Weihnacht

„Peters Weihnachtsmärchen“, so würde diese Geschichte wohl heißen, hätte sie sich denn in Deutschland abgespielt. Aber sie spielt nicht in Deutschland, auch nicht in Europa sondern an einem Ort ohne Weihnachtsbäume, irgendwo in Westafrika, wo es trotzdem viel mächtigere Bäume gibt als die Nordmanntanne. Nennen wir die Geschichte besser „Peter und der Missionar“ oder „Weihnachten für Pierre“. 

Pierre — wie er sich nach seiner Taufe nennen wird — lebt einen kräftigen Steinwurf entfernt von seinem kleinen Dorf im amphibischen Delta des Flusses, der dem ganzen Landstrich seinen Namen und seinen Reichtum gegeben hat: Casamance. Er lebt alleine in einer alten, strohgedeckten Hütte. Niemand aus dem Dorf besucht ihn, den Leprakranken, denn die Menschen haben Angst vor seiner Krankheit, die seine Hände und Füße zu klumpenartigen Gliedern verkrüppelt hat. Leprageschwülste um seine Augen reißen diese weit auf und verschreckten auch den Mutigsten aus dem Dorf endgültig, wenn sich denn überhaupt jemand dem Ausgestoßenen nähern würde.

Wäre da nicht ein Missionar gewesen, Pierre hätte seinen alten Namen behalten und wäre bis zu seinem Tod alleine dahinvegetiert. Für den respektvoll Père genannten Missionar  aus dem Elsaß mit dem schönen deutschen Familiennamen Weber bedurfte es nun gar keines besonderen Mutes, um Pierre aufzusuchen, als er von seiner Existenz erfuhr. Eines morgens klopft er bei ihm an, grüßt ihn, reicht ihm die Hand, erklärt sich, öffnet Fenster und Türen, desinfiziert die Hütte und bereitet dem Kranken ein Frühstück zu. Pierre erlebt ein Wunder. Und dieses Wunder sollte sich auch noch Woche für Woche jeweils am Samstag morgen wiederholen, wenn der Missionar eine kleine Gruppe Schüler mitbrachte, die sich um den Kranken und seine armselige Hütte kümmerten. Vor dem Abschied ließen sie ihm immer einen Wochenvorrat an Nahrungsmitteln zurück und Pierre dankte Allah für diese Gnade. 

Die Frohe Botschaft übersteigt aber bei weitem ein Samstagswunder und so lernte der Einsiedler voller Dankbarkeit das Vaterunser und das Gegrüßet seist Du Maria. Er erhielt einen Rosenkranz und nahm sich viel Zeit für Gebete. Bald wurde er vor seiner Hütte im Beisein einer Schülerschar getauft und nahm den Namen Pierre an. Er war jetzt der Einzige im Dorf, der einen christlichen Namen trug.

Weihnachten nahte und das große Fest der Geburt Christi sollte unseren Leprakranken ein weiteres Mal überraschen. Man quartierte ihn für einige Zeit in eine hergerichtete Garage in Elana um, dem nächsten Dorf mit Kirche, und als er zurückgebracht wurde, wollte er seinen Augen nicht trauen: von der alten Hütte und seinen Lumpen war nur ein Aschehaufen übergeblieben. Stattdessen erwartete ihn eine neue Lehmhütte mit Wohnraum, Schlafraum, kleiner Küche und kleinem Bad. Zu dessen Versorgung war ein Wasserreservoir aufgestellt worden. Und der Boden der Hütte war tatsächlich zementiert! Der Missionar und seine jugendlichen Helfer hatten ganze Arbeit geleistet. Pierre erhielt auch neue Kleider und Wollsocken zum Schutz für seine Hand- und Fußstümpfe.

Als stolzer Elsässer wollte Père Weber aber eine ganze Sache, nichts Unvollendetes. Was war mit den Dorfbewohnern, warum blieben sie noch immer weg? Immerhin schickten sie viele Kinder und Jugendliche in die katholische Schule. Und dort konnte der Missionar eine Gruppe von Jugendlichen aus Pierres Dorf überzeugen, dass man sich vor Leprakranken nicht fürchten muss. Bald übernahmen sie den Samstagsdienst in der Hütte.

Pierre wurde gesund und starb hochbetagt mit über 80 Jahren. Man fand ihn eines Tages tot auf seinem Bett liegend, die Beine zum Gebet gekreuzt und den Rosenkranz um seine Handgelenke gebunden. Pierre starb im Weihnachtsfrieden mit Gott und der Welt. Elana, das Dorf mit Kirche und Schule, beerdigte ihn wie einen der Ihren: Trauerfeier, Grab, Anzug und Krawatte für den Toten, Gebete, Gesänge. „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein…“ (Matt. 11,5) Elana, ein unbekanntes Dorf nahe des Casamancedeltas, lebte das Evangelium. 


© Hans Georg Tangemann / Françoise Badji 2013

 

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